Sonntag, September 18, 2005

Wahlspaziergang

Vor eineinhalb Stunden habe ich mich aufgemacht. Auf kürzestem Wege ging ich zu unserem Wahllokal, das sich in meiner alten Grundschule befindet - mitten durchs Dorf; durch unsere Straße, die eine Sackgasse ist; dann über den schmalen Fußweg, der unsere Straße mit der nächsten verbindet; dann hinunter zum Damm, den Damm entlang, und zu guter letzt mitten über den Pausenhof der Schule.
Schon der Pausenhof kam mir merkwürdig fremd vor. Es gibt dort nun Basketballkörbe. Eine Tischtennisplatte. Und auf dem ganzen Hof sind Straßen aufgemalt, die wohl für die Fahrradprüfung gedacht sind.
Als ich dort noch zur Schule ging, gab es nichts von alledem.

Nachdem ich meine Wahl getroffen hatte - voller Zweifel, aber was soll schon richtig sein in einer Zeit, wo beinahe jede Alternative gleich schlecht ist? - , beschloss ich, noch etwas draußen zu bleiben.
Quer über den Schulhof ging ich, dann die Treppen hinab, über die Straße, und geradewegs auf den Damm hinauf und dann diesen entlang.

Wie oft bin ich diesen Weg früher gegangen! Ich kannte diesen Ort einst wie meine Westentasche. Das alles scheint nun so lange zurückzuliegen...bin ich schon so alt?
Ich sah mich flüchtig ein wenig um; die Wiese unterhalb des Damms kam mir fürchterlich fremd vor, die Hügel weiter hinten, auf der anderen Seite des Flusses...

Als ich an der Durchfahrt zur Mühle angekommen war, ging ich auf der vom Dorf abgewandten Seite hinunter. Ich stellte fest, dass Turnschuhe nach wie vor guten Halt bieten auf einer im 45-Grad-Winkel geneigten Betonfläche.
Ich beschloss, zum Wehr hinüberzulaufen, nur bis dahin, und dann wieder zurück. Dazu muss man einen schmalen geteerten Fußweg benutzen, der mitten durch die Wiese dorthin führt. Ich wurde von einem Pärchen auf einem Mofa überholt. Ich hasse dieses Geräusch...nichts hätte mich in diesem Moment mehr stören können als dieses Mofa.
Es schien ewig zu dauern bis der Lärm endlich aufhörte. Ich schaute mir die Wiese zu meiner Linken an, in Richtung des Alten Sportplatzes. Das saftig grüne Gras lag in der vollen Sonne. Eine Zeit lang überlegte ich, mich zum Lernen dort hin zurückzuziehen, weit weg von allem Lärm und doch so nah am Dorf.

Als ich an der Brücke über den Fluss angekommen war, bemerkte ich, dass auf der jenseitigen, der Thonberger Seite ein neuer Flussarm um das Wehr herumführte. Wer weiß, vielleicht wurde er angelegt um Fischen zu ermöglichen, flussaufwärts zu schwimmen. Wie lange war ich nicht mehr dort gewesen? Der komplette Bachlauf schien, als wäre er schon immer dort gewesen, mit üppigen, langen Grasbüscheln überhangen, tief in den Boden eingegraben, sich um große Steine herumwindend...doch ich schloss darauf, dass er künstlich angelegt worden sein musste, da die Form des Baches nicht ganz natürlich wirkte, mit ihren aneinandergereihten Cs in immer gleicher Größe.

Ich beschloss, an diesem neuen Flussarm entlangzugehen, um eine der Kultstätten meiner Jugend aufzusuchen. Quer über die Wiese ging ich, immer am Fluss entlang. An einer Furt von der Thonberger Seite zur Mühle hinüber hielt ich inne und ließ das Rauschen des Flusses meine Gedanken überdecken und fortspülen.
Dann ging ich weiter und kam an diesen heiligen Ort, wo ein schmaler, von dicken Wurzeln übersäter Pfad zwischen dem Fluss und meterhohen Felsen hindurchführt. Ich habe schon fast vergessen, wo der Pfad letztlich hinführt; ich habe vergessen, mit wem ich dort zuletzt war; ich habe alles vergessen...

Immer wenn ich dich besuch, fühl ich mich grenzenlos.
Alles andere ist von hier aus so weit weg...
Ich mag die Ruhe hier zwischen all den Bäumen,
als ob es den Frieden auf Erden wirklich gibt...


An einer Stelle, an der der Weg noch schmaler zu werden schien, machte ich kehrt und ging langsam wieder zur Brücke zurück.
Auf der Brücke sah ich diese rot-schwarze Libelle, die vor mir her schwirrte, als ob sie sagen wollte: Hey, irgendwann wirst auch du fliegen können.
Dann war sie weg.

Ich ging die Treppen herunter und befand mich wieder auf der Neuseser Seite. Ich drehte mich um, sah an der Seite der Brücke Graffitis. Das übliche Hakenkreuz war noch zu erkennen, wohl schon Jahre alt, und darübergesprüht ein umgedrehtes Pentagramm, und der Satz "Rest in Metal". Willkommen zuhause, dachte ich mir.

Ich ging wieder den Asphaltweg entlang der über die Wiese führt. Oft schien es mir als ob ich ein Fahrrad im Leerlauf hören würde, doch es waren nur die Grillen irgendwo im Gras. Man traut der Stille nicht, wenn man sie nicht gewohnt ist.

Als ich an der Grenze zum Dorf angekommen war, am Damm, sah ich dann doch ein Fahrrad. Reingelegt. Ein Junge fuhr mit ihm auf dem Damm umher und versuchte sich an seltsamen Kunststücken.

Dann durchschritt ich den Einschnitt im Damm, wo bei Hochwasser dicke Holzbalken eingefügt werden um das Dorf zu schützen. Schon umgab mich das Gewirr aus mehr Fahrrädern, Kindergeschrei vom nahen Spielplatz, Autos, das übliche halt, der ganz normale tägliche Wahnsinn.

Muss denn alles Schöne immer ein Traum sein?


Durchs Dorf hindurch, durch unseren Garten zurück zum Haus, unseren Garten, in dem dank der häufigen Regenfälle dieses Jahr kaum ein vertrockneter Grashalm zu sehen ist, wie es sonst meistens der Fall ist.
Ich öffnete die Tür, ein plötzlich ungewohnt lautes Geräusch. Und befand mich hier, wieder da wo alles einmal begann.

Dieser Spaziergang hat für einige Zeit endlich einmal wieder alle meine Gedanken ausgelöscht. Und mich zurückgelassen in einer seltsam melancholischen Stimmung.

Die Fähigkeit, meine Gedanken zu töten, meine Gedanken, die mich so häufig beinahe wahnsinnig machen, haben außer Erlebnissen wie diesem wohl nur sex, drugs und rock'n'roll...mit dem Zusatz dass sex und drugs meist schwer verfügbar sind. Und mit dem Zusatz dass die Musik manchmal nicht ausreicht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Ganz besonders dann, wenn man eigentlich gar keine Zeit hat, sie richtig auf sich wirken zu lassen.

Ich will hier raus, ich will schweigend und frei an Flüssen entlangwandern, schweigend, doch nicht unbedingt allein.

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